Diese Woche im Spiegel stolperte ich über den Satz, „Sprache formt die Wirklichkeit“ (Ausgabe 37/2017, Seite 59). Er stand einfach so da, ohne weitere Begründung, als wäre diese Behauptung das selbstverständlichste der Welt und ohne weitere Erklärung einsichtig.
Mir ist das nicht einsichtig. Ich denke sogar, das ist falsch. Wenn überhaupt eine Beziehung besteht, dann in der Art, dass die Wirklichkeit die Sprache formt, aber nicht umgekehrt. Doch zuerst ein Gegenbeispiel, warum die Sprache nicht die Wirklichkeit formt (um eine Behauptung zu widerlegen ist ein einziges Gegenbeispiel ausreichend).
Nehmen wir an, da steht ein Baum. Das ist die Wirklichkeit. Dieser Baum wird ein Baum bleiben, ob ich ihn nun Baum, überhängendes Großgrün oder Scheißgewächs nenne. Er ist dort, immer noch derselbe Baum, seine Wirklichkeit in all ihren Details ist völlig unberührt davon in welcher Sprache und mit welchen Worten ich ihn bezeichne.
Andersherum, wenn ich etwas wahrnehme, und will anderen davon mitteilen, dann brauche ich Worte. Meist basiert die Wahrnehmung auf der Wirklichkeit, und auf diesem Weg formt die Wirklichkeit die Sprache – man nimmt etwas wahr, will sich darüber anderen Menschen mitteilen und braucht nun Worte um dies zu tun. Ist die Wahrnehmung, oder gar der wahrgenommene Gegenstand neu(artig), dann werden auch rasch neue Worte dafür erfunden oder alte Worte in ihrer Bedeutung erweitert.
Nimmt man die Wahrnehmung mit hinzu, dann lässt sich auch der zu Anfang kritisierte Satz „Die Sprache formt die Wirklichkeit“ zu etwas sinnvollem erweitern, „die Sprache formt die Wahrnehmung der Wirklichkeit“. Wir können die Sprache nutzen, um Dingen eine Bedeutung zuzuschreiben, eine positive, „Der Baum sorgt für frische Luft“ oder eine negative, „Der Baum stiehlt mir das Sonnenlicht“. Ab dem Moment, an dem der Sprecher eine dieser Aussagen etabliert hat, ist der besagte Baum nicht mehr wertfrei in der Wahrnehmung des Zuhörers, sondern entweder der gute Frischluftproduzent oder der böse Sonnendieb. Die Wirklichkeit, der Baum, ist aber immer noch dieselbe! Die Sprache formt auch hier nicht die Wirklichkeit, bestenfalls, wie Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen.
Und wenn ich gerade dabei bin, will ich mich auch noch zu einem anderen Unfug äußern, der in diesem Zusammenhang gerne behauptet wird: es sei unmöglich Dinge zu denken, für die es keine Worte gibt.
Ich will hier auf die Sci-Fi und fantasy-Autoren hinweisen, die Geschichten schreiben über Dinge die es nicht gibt, nie gab und vielleicht nie geben wird. Dinge, die vorher noch gar keinen Namen hatten. Z.B. das Wort Roboter in der Bedeutung „mechanischer Arbeiter“ – ich bin ziemlich sicher dass die Idee zuerst da war, und der Autor ein Wort suchte, um seine Idee dem Auditorium mitzuteilen, er wählte dafür „Roboter“.
Das Gleiche in der Fantasy-Literatur, das Wort „Ork“ existierte nicht, bevor Tolkien darüber schrieb. Er erfand es, um seine Idee einer dunklen, bösen und niederen Kreatur bezeichnen zu können – und es ist seitdem in der Fantasy-Welt ziemlich fest etabliert.
Auch hier kam das Wort nicht vor dem Gedanken. Der Ork wurde zuerst gedacht, noch unbenannt, und dann wurde ein Wort gewählt, um das Konzept anderen Leuten „in einem Wort“ mitteilen zu können.
Für mich sind das starke Hinweise, dass man durchaus Dinge denken kann für die es (noch) keine Worte gibt. Sobald darüber gesprochen oder geschrieben wird, werden dann Worte dafür gesucht und gefunden, oder neu erfunden, wenn sich kein passendes Wort finden lässt.